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Titelseite Rhein-Main-Zeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.03.2001, Nr. 72, S. 61


Wählers Gunst katapultiert auch Widerwillige ins Parlament
Politprominenz sammelt bei der Kommunalwahl fleißig Stimmen / Landesrekord: Offenbacher Schoppe (CDU) von 68 auf 11

cll./dme. RHEIN-MAIN. Als das Wahlamt anrief und die frohe Botschaft verkündete, mußte sich Tarek Al-Wazir erst einmal setzen. Der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Hessischen Landtag hatte auf dem letzten Listenplatz seiner Partei in Offenbach kandidiert. Daß er nach dem neuen Wahlsystem als bekannter Grüner einige Plätze gutmachen würde, hatte er schon vermutet. In der Gunst des Wählers letztlich auf dem siebten Platz zu landen und somit direkt in die Stadtverordnetenversammlung katapultiert zu werden, hatte er nicht erwartet.

Der 30 Jahre alte Offenbacher war nicht der einzige prominente Politiker im Rhein-Main-Gebiet, der von der Änderung des Wahlrechts profitierte. Die Wähler nutzten die neuen Möglichkeiten des Kumulierens und Panaschierens viel stärker als erwartet.

Wenn der Grünen-Politiker demnächst in der Offenbacher Stadtverordnetenversammlung Platz nehmen wird, ist ein "Leidensgenosse" im Raum, der ebenfalls erfahren hat, wie unzähmbar der Wählerwille ist. Hermann Schoppe (CDU) hatte sich eigentlich schon aus der Kommunalpolitik verabschiedet. "Um die Partei zu unterstützen", ließ sich der 64 Jahre alte Politiker, der schon seit 33 Jahren eine feste Größe in der Offenbacher Kommunalpolitik ist, auf die Bewerberliste setzen - auf den 68. und letzten Platz. Doch die Offenbacher waren unerbittlich in ihrer Zuneigung. Schoppe wurde auf Platz elf kumuliert und panaschiert und machte 57 Plätze gut: Landesrekord.

Einige Tage mußte der ehemalige Parteivorsitzende der Offenbacher CDU mit sich ringen, letztlich siegten Pflichtbewußtsein und Stolz über die eigenen Zweifel. Der Wille der Wähler müsse respektiert werden, sagt Schoppe tapfer und fügt hinzu: "Ich werde die Aufgabe auch in den nächsten Jahren wahrnehmen."

Zu einer solch klaren Entscheidung konnte sich Ludwig Georg Braun zumindest öffentlich noch nicht durchringen. Auf Platz 36 war der FDP- Politiker auf der Liste der Liberalen in Melsungen angetreten und fühlte sich dort sicher vor "Gefahr". Schließlich waren bei der Wahl 1997 nur fünf liberale Politiker ins Parlament gekommen. Braun wurden sein Amt als Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages und seine damit verbundene Bekanntheit zum Verhängnis. Die liberalen Wähler machten in großer Zahl ihre Kreuze neben dem ihnen vertrauten Namen und schoben Braun auf Platz eins der Liste. Ob der Chef der Medizintechnikfirma B. Braun Melsungen AG sich dem Willen seiner Anhänger beugen wird, wird voraussichtlich erst in einigen Tagen bekannt sein.

Ähnlich sensationell wie der Melsunger Wähler-Coup mutet der Aufstieg des Reinhold Pötsch in Dreieich an. Von Platz 21 der SPD-Liste zog der Chirurg vorbei an der gesamten parteiinternen Konkurrenz und trägt jetzt das Trikot des punktbesten Sozialdemokraten: "Meine Parteifreunde haben mir prophezeit, daß ich nach vorne rutsche, weil Ärzte sehr gerne kumuliert und panaschiert werden", sagte Pötsch. Er sei neunzehn Jahre am Dreieicher Krankenhaus als Oberarzt tätig gewesen und nun seit sechs Jahren in seiner Gemeinde als Chirurg niedergelassen - "da lernt man sehr viele Menschen kennen". Viele davon hätten ihm vor der Wahl gehäufte Stimmen versprochen. Daß er seit einem Jahr als Nachrücker ein paar Reden in der Stadtverordnetenversammlung gehalten habe, sei nicht ausschlaggebend gewesen.

Thomas Seifert rechnete ohnehin mit dem Einzug ins Stadtparlament von Bad König. Der SPD-Mann aus dem Odenwald wertet seinen Sprung von Listenplatz zehn auf Rang eins als Vertrauensbeweis der Wähler. "Natürlich freu' ich mich, das ist klar." Zwölf Jahre war er nach eigenen Angaben im Parlament, bevor er eine Wahlperiode aussetzte. Nun wird er als "erster Mann" der SPD wieder in die Stadtverordnetenversammlung einziehen. Daß ihm Parteifreunde das gute Ergebnis neiden könnten, glaubt Seifert nicht: "Unser Fraktionschef spricht immer von einem Team, neidisch ist da niemand."

Anders könnte es sich verhalten, wenn in einer Fraktion der Spitzenmann erkennen muß, daß Parteifreunde beim Wähler besser ankommen als der parteiintern zur Nummer eins Gekürte. "Das sehe ich gar nicht so", sagt Burkhard Wagner. Der Fraktionsvorsitzende der SPD in der Stadtverordnetenversammlung von Maintal rutschte von eins auf vier ab, was freilich locker zum Einzug ins Parlament reichte. "Das ist genau das demokratische Ergebnis, das der Gesetzgeber mit der Wahlrechtsänderung erreichen wollte. Da müssen persönliche Befindlichkeiten hintanstehen." Er erkläre sich den Verlust dreier Positionen dadurch, daß diejenigen, die an ihm vorbeizogen, im Ort alteingesessen und beliebt seien. In seiner eigenen Fraktion hat Wagner offensichtlich keinen Ansehensverlust hinnehmen müssen. Am Donnerstag wurde er bereits als Fraktionsvorsitzender bestätigt.

Etwas verunsichert zeigte sich hingegen der Frankfurter Günter Dürr (SPD): "Meine Eitelkeit ist sicher ein bißchen angekratzt." Der ehrenamtliche Stadtrat rutschte von 16 auf 27 und sicherte sich nur knapp den vorletzten freien Stuhl seiner Partei im Römer. "Als ich am Wahlabend hörte, daß 40 Prozent kumuliert und panaschiert haben sollen, habe ich geahnt, daß ich abrutschen könnte." Letztlich habe ihn erstaunt, daß er so tief gefallen sei. Dürr führt seinen Abstieg darauf zurück, daß die Jusos im Kampf um die Stimmen von Wählern der SPD-Linken nur für ihre Leute geworben hätten. Dies habe "alten Linken" wie ihm geschadet.


Bildunterschrift:    Hermann Schoppe

Ludwig Georg Braun

Tarek Al-Wazir


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